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Holger Przesdzienk – meine Geschichte

LHON im Alter

26. Dezember 2014 – zweiter Weihnachtsfeiertag

Holger Przesdzienk beim Tanzkurs mit seiner Frau
Holger Przesdzienk beim Tanzkurs mit seiner Frau

Meine Frau und ich haben uns ein leckeres Menü zubereitet. Ich sitze am festlich gedeckten Tisch und stoße unverhofft mein gefülltes Bierglas um. Meine Frau ist erfreut über das zusätzliche „Geschenk“ und ich stammele nur: „Ich habe es nicht gesehen.“ (Anmerkung: Ich hatte vorher keinen Tropfen Alkohol getrunken).

Renate, meine Ehefrau, meinte, dass ich im nächsten Jahr wieder zum Augenarzt müsste, wobei ich erst Anfang 2014 beim Augenarzt war. Es folgte das Vergessen. Es lief ja alles wie gehabt. Ich konnte lesen, ich konnte fernsehen, ich konnte Fahrrad fahren, ich konnte Autofahren und sonst alles machen, was ein sehender Mensch machen kann.

Ende Februar 2015

Maler sind bei uns im Treppenhaus tätig und mich reitet der Überprüfungsschalk. Ich wollte durch den Türspion unserer vor einigen Jahren eingebauten Sicherheitstür den Fortgang der Malerarbeiten kontrollieren. Das besondere an unserem Spion ist, dass man mit ihm rechts um die Ecke gucken kann. Bei dem Versuch stellte ich fest, dass ich 0,0 sehe, mit dem rechten Auge. Mein Gedanke: Hoffentlich ist die Tür samt Spion noch in der Garantiezeit und hoffentlich weiß Renate noch, wo die Rechnung ist.  Einige Tage vergingen – ich erzählte Renate von dem Vorfall und sie führte mit mir einen simplen Augentest durch, in dem ich einmal das rechte und dann das linke Auge zuhielt. Das Ergebnis: Das rechte Auge war eine Dunkelkammer, das linke funktionierte wunderbar. Renate diagnostizierte, dass das grauer Star sein könnte, da einige Kolleginnen das bereits auch hatten und mit einem einfachen ambulanten Eingriff überstanden haben. Charmant sagte sie: „Das kann in Deinem Alter schon vorkommen“. Ich war vor Freude gerührt, denn ich war erst 62,5 Jahre jung, sportlich, etc..

Ich machte einen Termin bei einem Augenarzt in der Nähe, der spezialisiert auf diese Star-OP war. Meine Hausaugenärztin war in Urlaub.  Nachdem die erste gründliche Untersuchung durch eine junge Augenärztin erfolgte und die mich gebeten hatte, ob ihre Kollegin mir auch nochmal in die Augen sehen könnte, flog ein Gedankenvögelchen durch meinen Kopf, das mir zwitscherte: Da ist etwas nicht normal. Danach ging ich zu meiner Hausaugenärztin, die kurz und knapp feststellte: „Der Patient sieht nichts, der Arzt sieht nichts. Kommen Sie in drei Monaten wieder!“ Wie???

Nach einigen weiteren Augenarztuntersuchungen ohne Diagnose wurde ich zum Neurologen geschickt. Diese Neurologin konnte allerdings nach ersten Tests nichts Auffälliges feststellen. Dann folgte ein Kopf-MRT. Da ich als junger Mensch Technomusik liebte, war es für die ersten Minuten ganz abwechslungsreich, aber da der Prozess ca. 40 Minuten dauerte, war ich froh, dass meine Frau Renate neben mir saß und mir die Hand halten konnte. Mir wurde unmittelbar nach der Untersuchung mitgeteilt, dass in meinem Kopf alles ok ist. Eine Lawine der Erleichterung fiel von mir ab, kein Tumor, etc…

Aber die Ärzte wussten immer noch nicht, was mit mir los ist. Ich wurde als Notfall in ein Krankenhaus in die Neurologie überwiesen. Dort wurde bei mir eine Rückenmarkspunktion durchgeführt. Ich war vier Tage in der Klinik. Während dieser Zeit habe ich Cortisoninfusionen erhalten, die nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ihre Wirkung zeigten und sehr hohen Blutdruck, Panikattacken zur Folge hatten. Das positive Ergebnis war: Ich hatte kein MS, das negative: Es wußte immer noch keiner, was es ist. Erwähnenswert ist, dass ich während des Aufenthaltes Fernsehen konnte, lesen und mit meiner Frau Kniffel spielen konnte.

Da zwischenzeitlich auch die Möglichkeit einer psychischen Ursache meiner Sehverschlechterung aufkam, wurde mir eine Ärztin mit psychotherapeutischer Ausbildung empfohlen. Nach einigen Gesprächen kam die Erkenntnis, dass ich vieles aus meiner Kindheit noch nicht verarbeitet hatte. Dort wurde ich auch akupunktiert.

Danach war ich bei einem Augenarzt, der mir vom Neurologieprofessor empfohlen wurde. Diese Untersuchung ist auch bemerkenswert. Es war Ende Mai 2015. Ich hatte noch eine ausreichende Sicht. Der Augenarzt, der mir gegenüber saß, war ein gut aussehender Mann von ca. 50 Jahren, modisch gekleidet, der seine Untersuchung mit folgender Frage begann: „Was wünschen Sie sich?“ Jetzt war ich mir doch sehr unsicher, ob ich beim Arzt oder in einer „Wünsch Dir was- Sendung“ war. Es erfolgten einige Untersuchungen. Es durften alle Kollegen und Assistenzärzte mal in meine Augen schauen. Mein Augenarzt diskutierte mit einem älteren Kollegen, logischerweise auf lateinisch, über mich. Ich war an dem Punkt angelangt, dass ich den Ärzten sagen wollte, es wäre doch besser, mit mir zu sprechen als über mich. Dann bekam ich das Ergebnis mitgeteilt, indem der Arzt weiter seine beliebte Frageform fortsetzte. Die Frage war diesmal: „Was halten Sie von Glaukom auf beiden Augen?“ Ich war von diesem Tagesangebot so verwirrt, dass ich es versäumte, nach weiteren Angeboten zu fragen. Es war mittlerweile schon 19.00 Uhr. Ich wurde entlassen, ohne einen weiteren Termin bekommen zu haben. Das ganze Ende dieser Glanzleistung setzte sich einige Tage später fort, wo ich meiner Neurologin über diese Untersuchung berichtete, sie den Augenarzt in meinem Beisein anrief, er sich wohl zu erinnern schien und dann sagte: ich wäre ein interessanter Fall und er würde gern weitermachen. Da war für mich das Fass übergelaufen und dieser Augenarzt unten durch.

Dann wurde ich von einem Bekannten an die Augenklinik in Karlsruhe verwiesen, da dort eine sehr fähige Oberärztin tätig sei. Es erfolgten wieder umfangreiche Untersuchungen und dort tauchte zum ersten Mal LHON auf, der allerdings in Anbetracht der Tatsache, dass ich fast 63 Jahre alt war, als nicht für wirklich möglich erklärt wurde. Stattdessen wurde mir eine Infusionstherapie empfohlen, die ich in Hannover durchführen ließ.

Von einem befreundeten Arzt hatten wir von der Uniklinik Münster gehört, die bei seinem Bruder hervorragende Leistungen vollbracht hatte. Dann haben wir keine Kosten und Mühen gescheut und sind zweimal mit Übernachtung nach Münster gefahren zu umfangreichen Untersuchungen. Es war ein ganz klein wenig Urlaub, weil wir abends den Hotelbiergarten genießen konnten. Allerdings machte sich das „Wenigersehen“ bei mir schon bemerkbar. Diagnose von der Frau Professor war: Es könnte sich um eine psychische Konversionsstörung handeln. Ich habe daraufhin einen Psychiater aufgesucht und nach ca. 4 Besuchen die Behandlung von mir aus eingestellt, da seine Erkenntnis in jedem Gespräch war: „Ich sei doch sehr aktiv.“

Dann hat meine Frau mir im September 2015 einen Wurfzettel vorgelesen (ich konnte jetzt nicht mehr selbst lesen), in dem eine junge, ausgebildete Musikpädagogin und Jazzsängerin ihre Dienste anbot. Wir haben sie eingeladen. Es ist eine junge, hübsche Deutsch-Französin. Ich konnte noch ein wenig ihr Gesicht erkennen. Sie hat mir bis zum Eintritt von Corona zu Hause Unterricht erteilt und meine Frau später auch auf dem ePiano unterrichtet. Das Ergebnis ist im Internet auf youtube zu sehen und zu hören. Ich habe dort vier selbst getextete und vertonte Lieder mit sozialkritischem Inhalt veröffentlicht. Einfach mal „Holger Przesdzienk“ auf youtube aufrufen!

Holger Przesdzienk mit seinem weißen Gehstock - ein wahrer "Blindgänger"!
Holger Przesdzienk

Dann wollte ich alte Aktivitäten aufnehmen und habe mich im September 2015 in einem Sportstudio, wo ich früher schon einmal Mitglied war, zu einem Probetraining angemeldet. Den ca. 15-minütigen Fußweg habe ich allein, nur mit Hilfe eines weißen Gehstocks, bewältigt. Zwei Erlebnisse dazu: Ich musste u.a. über eine viel befahrene Ampelkreuzung gehen und war nicht mehr in der Lage, die Ampelfarben zu erkennen. Es gab auch kein akustisches Signal. Also habe ich mir geholfen, indem ich Menschen, die an der Ampel standen, um Hilfe gebeten habe. Das klappte immer sehr gut. Dann fragte ich einen Mann und erhielt nach einigen Minuten des Schweigens die Antwort, dass er selbst nichts mehr sieht. Dann fragte ich ihn, wie er denn rüberkommen würde. Er sagte: „Nach Gehör“. Dann zog er mich über die Straße, weil gerade sein Bus kam. Seitdem hat der Begriff „Blindgänger“ für mich eine besondere Bedeutung. Ich erhielt einige Wochen später bei einem Mobilitätstraining die Auskunft, dass es die übliche Art für Blinde ist, die Straße zu überqueren.

Anschließend wollte ich mich bei meiner Frau bedanken für Ihre Geduld und Unterstützung und in einem Blumenladen, von dem ich wusste, dass er besonders war, Blumen kaufen. Da fragte mich der Mann, was ich von einer Artischocke halten würde. Ich erkundigte mich, ob ich jetzt in einem Blumenladen oder in einem Gemüseladen wäre. Ich habe daraufhin, sehr zur Freude meiner Frau, die Artischocke gekauft.

2016 – der “Mann des Jahres

Dann waren die vier Wochen Probetraining vorbei und ich wollte einen Zweijahresvertrag abschließen, erhielt allerdings von der Fitnessleitung, die Auskunft, dass ich nicht erwünscht sei, da jedes Mal das Aufsichtspersonal in höchster Alarmbereitschaft wäre, wenn ich im Haus bin und sich angeblich einige Mitglieder beschwert hätten. Daran musste ich sehr knabbern, habe aber mit meiner Frau den Kampf aufgenommen und nach einigen nachdenkenswerten Ereignissen bin ich auf den Sozialverband Deutschland (SoVD) gestoßen, wo es nach einigen Wochen dem Leiter der Presseabteilung gelungen war, dass in der hannoverschen Presse mehrere Tage hintereinander mein Schicksal und die Inklusion von Behinderten Wochenthema war. Auch im Fernsehen bei NDR, RTL, SAT wurde mein Fall gezeigt zum Thema Inklusion. Der SoVD hat im Jahr 2016 erstmals ein Schwarzbuch von skandalösen Fällen aufgelegt und der „Mann des Jahres“ war ich. So bin ich zu einer Berühmtheit gekommen, die ich eigentlich nie beabsichtigt habe und ich wusste immer noch nicht, was ich eigentlich habe.

Diese Kampagne hatte allerdings zur Folge, dass ich bei mehreren Fitnessstudios kostenfrei Probe trainieren konnte und ich habe mich dann für ein Fitnessstudio mit umfangreicher Wellnessanlage entschieden. Dort bin ich bis heute noch und habe mir in der ersten Zeit all die Wege eingeprägt und die Schritte gezählt, da ich am Anfang noch einiges wahrnehmen konnte. Da sich mein Sehvermögen immer weiter verschlechtert hat, bin ich froh, das erlernt zu haben. An meinem Langstock habe ich mir eine Fahrradklingel anbringen lassen, um Menschen frühzeitig auf mich aufmerksam zu machen.

Um meiner Frau eine Freude zu bereiten, haben wir begonnen, Tanzunterricht zu nehmen. Seit April 2016 haben wir bei einem privaten Tanzlehrer Tanzunterricht, der sich sehr gut auf meine Situation einstellt, mich motiviert und unterstützt. Ich kann nun Walzer links und rechts rum, Rumba und Tango argentino. Ich kann es jedem Blinden empfehlen, es stärkt das Gleichgewichtsgefühl!

Zwischendurch war ich auch bei einem Sozialpädagogen in Iserlohn, der sehr erfolgreich im Bereich der Raucherentwöhnung war, der mich besprochen hat und mir eine CD mitgegeben hat, die mir helfen soll. Mit dem Ergebnis: Gleich null, nur mein Konto war wieder leerer.

Es folgte eine fast zweijährige Odyssee mit Augenärzten, Neurologen, Psychologen, Kliniken, Klinikaufenthalt mit V. a. MS und Rückenmarkspunktion, MRT… Im Januar 2016 wurde ich blind im Sinne des Gesetzes, rückwirkend zum Oktober 2015 ohne eine eindeutige Diagnose zu bekommen.

Bis dann endlich im Oktober 2016 im zweiten Anlauf eine Genuntersuchung von der MHH Hannover veranlasst wurde und ich das Ergebnis im März 2017 mitgeteilt bekam: LHON. Ich bekam Raxone verschrieben, meine private KV hat die Kosten erst einmal für zwei Jahre übernommen, danach ab März 2019 bis „end of life“ verlängert. Anfang 2019 habe ich mir eine teure Spezialbehandlung in Magdeburg gegönnt mit Elektrostimulation, mit dem Ergebnis: Einige tausend Euro haben den Besitzer gewechselt, meine Frau und ich haben einen kleinen Einblick in das Magdeburger Stadtleben bekommen, und danach die tiefe Enttäuschung, dass sich nichts aber auch gar nichts positiv verändert hat. Es ging mit meinem Sehvermögen weiter abwärts.

Aktueller Stand Juni 2020

Holger Przesdzienk mit seiner Frau beim gemeinsamen musizieren
Holger Przesdzienk mit seiner Frau

Ich bin fast auf der Null-Linie angekommen, benötige dadurch die Hilfe und Unterstützung meiner Ehefrau, die in all der Zeit meine depressiven Schübe, meine Wut, meine Ohnmacht ertragen hat. Dafür: Danke! Und ich verdammte Schwierigkeiten habe, mich mit dieser elenden Situation abzufinden.

Aber wenn man denkt, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Meine Frau hat seit einiger Zeit eine Haushaltsunterstützung für 2,5 Stunden pro Woche aus Eritrea, deren 13jähriger Sohn war neulich bei uns zu Besuch und dann habe ich ihm von Hannover, von der Geschichte Deutschlands, der Entstehung der Schule erzählt. Er hat das wissbegierig aufgesogen und will „Opa“ demnächst wieder besuchen. Da hat es bei mir „Klick“ gemacht.

In einigen Wochen werde ich 68 Jahre jung.

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